Gastbeitrag von Ralf Schneeberger über Doku TV, das Multimediamobil für Menschen mit und ohne Handicap
Der Offene Kanal Wettin e.V. ist ein Verein, der seit 1998 medienpädagogische Projekte durchführt. Innerhalb eines laufenden Projektes entwickelten wir die Idee Medienprojekte auch für diejenigen anzubieten, die sonst schwer Zugang zu praktischer Medienarbeit hatten.
Erste Versuche
Erste Erfahrungen sammelten wir in verschiedenen Einrichtungen der Behindertenhilfe. Bei den Teilnehmenden kamen diese eintägigen Projekte gut an. Anfangs lief es immer darauf hinaus, die jeweilige Einrichtung filmisch vorzustellen. Die Bedürfnisse und Ideen der Menschen, um die es doch eigentlich gehen sollte, wurden jedoch noch kaum berücksichtigt.
Doku TV
Wer sich mit der Beantragung von Projekten auskennt, weiß, dass es manchmal Jahre dauert, bis eine Idee finanziell gefördert wird: Erst im Frühjahr 2008 konnte das Projekt „Doku TV“ seine Arbeit endlich aufnehmen. Mit wenig Erfahrung, aber vielen Visionen begannen wir. Eines stand fest: Es sollten Projekte werden, in denen sich die Teilnehmenden auch wirklich wiederfinden würden!
Wir gingen in jede Einrichtung ohne vorgefertigte Idee im Gepäck – diese sollte von den Projektteilnehmenden selbst kommen! Neben unsere alten Partnereinrichtungen gesellten sich neue hinzu. Wir gingen keiner Behinderung aus dem Weg, wollten jedem die Chance geben, das Medium Film praktisch zu erfahren.
Das nächste Ziel war, junge Leute vom Offenen Kanal in die Projekte zu integrieren. An den gemeinsamen Projekttagen, die sich über viele Monate verteilten, wurden Berührungsängste ab- und Vertrauen aufgebaut. Die Behinderung spielte nur noch eine untergeordnete Rolle. Jeder half jedem. Was der eine nicht tragen, sagen, sehen oder verstehen konnte, trug, sagte, sah oder verstand der andere.
Nicht alles lief glatt. Es gab auch Konflikte und Projektaussteiger. Das gibt es aber in jeder Gruppe und ist normal. Und Normalität herzustellen war unser Anspruch: Niemand sollte sich auf seine Einschränkung zurückziehen – aber genauso wichtig ist auch Empathie im richtigen Moment. Nicht „Ich kann das nicht“, sondern „Ich probiere es und du hilfst mir“ war das Motto.
Die Ergebnisse
In den drei Projektjahren entstanden in Zusammenarbeit mit den Halleschen Behindertenwerkstätten e. V, der Körperbehindertenschule (Kö) Halle, dem Landesbildungszentrum für Blinde- und Sehbehinderte Halle, der Siedlung am Park Oppin und anderen ca. 25 Filme und das Format „TV total normal“.
Die Filme „Die Pforte“ und „Kartofellstoppeln“ wurden beim Bürgermedienpreis Mitteldeutschland und dem re-flect Wettbewerb Stendal ausgezeichnet. Ebenso das Musikvideo „Hör nie auf dein Herz“, dass wir mit der Schülerband der Kö auf dem Dach eines 22-stöckigen Hochhauses drehten.
„Mit Hindernissen durch die Händelstadt“
Das größte Projekt innerhalb Doku TV war der bei den European Diversity Awards in London zweifach nominierte Film „Mit Hindernissen durch die Händelstadt“, der in Zusammenarbeit mit der evangelischen Stadtmission entstand. Nach intensiver Arbeit fand die Premiere im Kino The Light in Halle unter den Augen von über 200 Zuschauern statt. Zwei weitere Aufführungen folgten.
Als wir zwei Jahre zuvor starteten, war nicht klar, was daraus einmal werden würde. Ursprüngliches Ziel war ein Filmprojekt mit acht Rollstuhlfahrern, die ihre Sicht zur Sprache bringen. Der Film sollte von den Barrieren in ihrer Stadt und in den Köpfen der Menschen handeln. Die Projektteilnehmer bestimmten das Thema, die Intensität und den Zeitrahmen. So wurde auch in einer der vielen Besprechungen die Idee geboren, die Barrierefreiheit eines Bordells zu testen.
Im ersten Projektjahr, der Vorbereitungsphase für die Drehs, wurde recherchiert, diskutiert, organisiert, kontaktiert und ausprobiert…am Ende standen neun Drehtermine bzw. Interviews bei privaten und öffentlichen Einrichtungen der Stadt Halle. Die Interviews wurden von den Projektteilnehmer/innen ausgearbeitet und durchgeführt, der Offene Kanal unterstützte und übernahm Kamera und Schnitt.
Doch was hat die zwei Jahre dauernde Zusammenarbeit gebracht? Wir „Fußgänger“ betrachten den Alltag nun aus einem ganz anderen Blickwinkel. Bei jeder Bordsteinkante überlegen wir nun: „Würde da wohl ein Rollstuhl allein hoch kommen“? Die Projektteilnehmenden im Rollstuhl erkannten, dass es nichts bringt, „in der Ecke zu bleiben und zu schimpfen“, sondern dass sie es selber in der Hand haben, etwas zu verändern und dass sie durchaus gehört werden. Sie erlebten, dass sie nicht alles hinnehmen müssen; dass sie Dinge nach- und hinterfragen können – und dass ihre Meinung wichtig ist!
Stimmen
David: Ich habe durch das Projekt an Erfahrung gewonnen. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, weil ich da meine Ideen mit einbringen konnte und weil die Bedürfnisse von behinderten Menschen wahrgenommen wurden.
Björn: Das Projekt ist eine tolle Sache, aber man hat teilweise gemerkt, dass viele „Läufer“ noch Angst vor Menschen mit Handicap haben oder besser gesagt Berührungsängste.
Roger: Ich habe gelernt, dass man eine Sache selber erleben muss, um beurteilen zu können, wie anstrengend es überhaupt ist… Ich hatte das Gefühl, dass ich ernst genommen wurde. Ich fand die Organisation sehr gut, weil das Team von Doku TV versucht hatte, Lösungen mit uns zu finden und die Probleme zu beheben. Ich fand…die Dreharbeiten bei der Deutschen Bahn gut…weil durch das Projekt Gedanken bei den nicht behinderten Menschen angestoßen wurden.
Sebastian: Ich finde es super, bei so einem Projekt dabei zu sein und auch so richtig mitzuarbeiten, da nehmen uns auch mal die Leute ernst und schauen nicht nur weg… drum wäre es schön, dass dieses Projekt erhalten bleibt, es gibt noch viel mehr an die Öffentlichkeit zu bringen und es macht riesen Spaß.
Mitteldeutsche Zeitung vom 25.09.10
„..fünf Rollstuhlfahrer standen gestern im Mittelpunkt, als der Film im Neustädter The light Cinema mit viel Publikum Premiere feierte.“
„…eine große Portion Mut steckt in dem Streifen, den die fünf Männer und Frauen…in Angriff nahmen.“
„Der Streifen zeigt zwei Seiten einer Medaillie. Die des Fortschritts, aber auch die eines großen Stückes Arbeit, das noch zu bewältigen ist.“
„In einer Szene scheuen die fünf Protagonisten nicht davor zurück, dem ehemaligen Pressesprecher der Theater …GmbH,….zu demonstrieren, dass die Spülung auf der behindertengerechten Toilette….schwer für Rollstuhlfahrer zu bedienen ist.“
„Das mutigste an dem Streifen ist jedoch ein Tabubruch, denn es geht auch um käufliche Liebe….Der Film sensibilisiert dadurch für einen viel weiteren Begriff der Barrierefreiheit – sexuelle Barrierefreiheit eingeschlossen.“