Birgit Seemann über das inklusive, praxisorientierte Jugendmedienprojekt von Löwenkind e.V.
Das Projekt „Storywelten hören“ will mit sehenden und nicht sehenden jungen Menschen theoretisch und in praktischen Übungen der Frage nachgehen, welche gestalterischen Möglichkeiten es gibt und welche Zusatzangebote – zum Beispiel Audioeinführungen in Anlehnung an sogenannte Serienbibeln – geschaffen werden können, um die sinnstiftenden, bildhaften Erzählräume aktueller Serien inklusiv erlebbar zu machen.
Hintergrund der Projektidee
Serielles Storytelling hat sich in TV und im Web zur wichtigsten Narrationsform entwickelt. Die Dramaturgien und Inszenierungsformen sind dabei rasant, ästhetisch außergewöhnlich und oft in mehreren Handlungs- und Zeitebenen in Szene gesetzt. Charakteristisch ist vor allem der bedeutungsvolle und aufwendig gestaltete Erzählraum: die sogenannte Storywelt. Die Serien geben dem Raum außergewöhnlich viel Bedeutung, um verschiedene Stimmungen und Atmosphären zu schaffen. Die Storywelt weist zudem stets Bezüge zu jugendlichen Lebenswelten auf: So geht es z. B. in der Serie „Parfum“ um die Themen Freundschaft, Familie und Loyalität, in „Dark“ um mögliche Zukunftsszenarien. Das junge Publikum nutzt die Auseinandersetzung mit diesen Serienformaten privat und in den Sozialen Medien zum Austausch über seine Gesellschafts- und Lebensthemen. Voraussetzung dafür, dass sehbehinderte und blinde junge Menschen mitdiskutieren können, ist neben einer Audiodeskription eine zusätzliche Beschreibung, in der die sinnstiftende, sinnliche Atmosphäre des Erzählraumes nacherlebbar wird. Denn durch die neuen Dramaturgieformen entstehen große Herausforderungen für eine Audiodeskription: Ist es überhaupt noch möglich, die opulenten sinnlichen und sinnhaften Bilderwelten in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit wieder zu geben? Was gibt es darüber hinaus für Möglichkeiten, den ästhetischen und symbolischen Bildgehalt einer Serie zu vermitteln? Welche mentalen, inneren Bilder und Raumvorstellungen entstehen bei einer akustischen Rezeption dieser neuen, komplexen Erzählräume? Zu diesen Fragen gibt es kaum Erfahrungen und Untersuchungen.
Das Projekt
Dies war der Ausgangspunkt des Projekts: Gemeinsam mit film- und serienbegeisterten jungen Menschen ist zunächst ein inklusiver Gesprächskreis entstanden zum Austausch und Ausprobieren. Hier geht es nicht nur darum, etwas aus der (Medien) Welt der Sehenden zu vermitteln, sondern auch zu erfahren, wie blinde und sehbehinderte junge Menschen unsere visuell bestimmte Medienkultur erleben: Zunächst wurde in diesem Zusammenhang kritisch bemerkt, dass immer nur von den blinden oder sehbehinderten Menschen gesprochen wird. Eine Differenzierung der Rezeptions-Bedürfnisse anhand von Alter, Geschlecht, Lebenswelt, Weltwissen und Mediennutzung wird nicht herangezogen. Das Projekt kann und will zu den Fragen keine generalisierten Antworten liefern, aber einen Anfang machen, sich über diese Fragen auszutauschen und sich gegenseitig zuzuhören.
Dieser Austausch kann und soll darüber hinaus das generelle Interesse an Medien- und Filmarbeit wecken. Im Bereich der inklusiven Arbeitsteams für die Erstellung von Audiodeskriptionen und Zusatzangeboten liegt ein weites Tätigkeitsfeld für blinde und seheingeschränkte junge Menschen. Doch oft genug werden von Produktionsfirmen eher Studenten zur preisgünstigen Übersetzung herangezogen, leider gerade seitdem neue Förderrichtlinien zumindest eine Beschreibung von geförderten Formaten verlangen. Das Projekt will auch an diesem Punkt anknüpfen und für Interessierte die Möglichkeit vertiefender Workshops (bis 10 Teilnehmende) anbieten, um über das Projektthema hinaus ein erstes Wissen in Filmästhetik und Medienproduktion zu vermitteln, das für eine entsprechende Berufsorientierung hilfreich kann. Bescheinigungen für ein schulunabhängiges Medienpraktikum können ausgestellt werden.
Die Projektarbeit wird begleitet von zwei Arbeitsassistenten, einer Medienpädagogin und zwei Filmemachern: Für die Umsetzung des Themas brauchte es unbedingt Mitarbeiter, die breites Theorie- und Praxiswissen in Filmgeschichte, -gestaltung und -technik besitzen. Das Projekt stellt zudem barrierefreie Arbeitsräume mit der notwendigen Ausstattung in Film- und Tontechnik zur Verfügung.
Erste Ergebnisse
Nach einem halben Jahr Projektarbeit ist vor allem ein Aspekt ins Zentrum gerückt: Die Audio-Einführung der Inhalte, also erstelltes Zusatzmaterial. Angelehnt ist die Audio-Einführung an die sogenannten Serienbibeln von Produktionen. Diese beschreiben das Serien-Universum, seine zugrunde liegende Historie und Mythologie, die Schauplätze und Charaktere. Auf diese Weise könnten alle Aspekte einer Serie, die nicht ausreichend im Rahmen einer Audiodeskription berücksichtigt sind, blinden und sehbehinderten Rezipienten zur Verfügung gestellt werden.
So kann eine der Ästhetik der Serie entsprechende sprachliche Übermittlung näher vermittelt werden: Zum Beispiel, wenn Schauplätzen einer Handlung quasi eine eigene Rolle zukommt – wie z. B. der Landschaft des Niederrheins im „Parfum“ – oder Symbole und Farben genutzt werden, um psychische Befindlichkeiten der Protagonisten zum Ausdruck zu bringen. Im Projekt sind erste Zusatzbeschreibungen zu Personen, Kulissen oder Landschaften der Serien „Babylon Berlin“, „Parfum“ und „Dark“ diskutiert und umgesetzt worden, einige eher handlungsorientiert, andere eher filmästhetisch betont.
Ausprobiert werden auch erste Versuche, mit Hilfe eines 3D-Druckers haptische Modelle von Teilen einer Storyworld zu schaffen. Ehrgeiziges Ziel ist hier die Darstellung von Teilen des berühmten Vorspanns von „Game of Thrones“, der das Universum dieser Serie in einer Animation visuell zusammenfasst und bei allen GoT-Fans Kultcharakter hat.
Weiterhin werden verschiedene Vertriebsmöglichkeiten von Zusatzmaterial angedacht, als Audio- oder PDF-Dateien, zum Beispiel auf einer Website, entsprechend der Möglichkeiten, die hier das Urheberrecht einräumt.
Im Sommer 2019 sollen alle Erfahrungen und Projektergebnisse abschließend evaluiert und einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.
Das Projekt wird gefördert von der Aktion Mensch.