Ein inklusives Jugendfilmprojekt zum Thema Darstellung von Krankheit und Behinderung in TV Magazinen. Gastbeitrag von Birgit Seemann
Das Thema Krankheit und Behinderung entwickelt sich zum Dauerbrenner in TV Magazinen. Dabei hat sich der voyeuristisch-mitleidige Blick auf die Betroffenen in der letzten Zeit gewandelt. Mehr (Quoten)erfolg versprechen nach dem Muster von Unterhaltungsformaten aufbereitete „Success Stories“ über Betroffene, die sich in der Auseinandersetzung mit Krankheit und Behinderung an den Leistungsidealen unserer Gesellschaft messen lassen können. Dieses vermeintlich positive Betonen der kämpferischen Fähigkeiten ignoriert jedoch gesellschaftlich bestehende Teilhabebarrieren ebenso wie die Vielfalt menschlichen Lebens jenseits der äußeren Maßstäbe unserer Leistungsgesellschaft.
Auf der Strecke bleiben die Sichtbarkeit und Berechtigung einer anderen Wirklichkeit. Das hat weitreichende Folgen für diejenigen, die auf Anfrage von TV Sendern bei den entsprechenden TV Formaten mitgewirkt haben. Die Freude über die Möglichkeit der Teilhabe an einer größeren Öffentlichkeit, die Hoffnung, etwas über die eigene Lebenswelt mitteilen zu können, weichen oft genug der Ernüchterung nach der Ausstrahlung der Sendung. Viele Protagonisten werden gutgläubig und ohne Wissen über Produktionsbedingungen und Anliegen des Fernsehens von vermeintlich wohlwollenden Redakteuren überrollt und erkennen in den Sendungen ihr eigenes Anliegen kaum wieder. Dieses Auseinanderklaffen von Selbstbild und Fremdbild ist vor allem für Kinder und Jugendliche problematisch. Aber auch die Rezeption dieser Beiträge hat nachhaltige Folgen, denn der gesellschaftliche Diskurs über Krankheit und Behinderung wird nach wie vor in den und über die Medien geprägt, weit mehr als durch reale mitmenschliche Erfahrungen.
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die Betroffenen eine Kompetenz im aktiven Umgang mit dieser Öffentlichkeit gewinnen. Persönlich nicht betroffene Zuschauer dagegen müssen erkennen lernen, dass ihr Bild von Krankheit und Behinderung ein medial geprägtes ist, das nicht immer der Lebenswelt der Betroffenen entspricht.
Das inklusive Jugendfilmprojekt „die Wirklichkeit sieht anders aus“ beschloss, dem öffentlichen (Medien)Diskurs über die Lebenssituation von jungen Menschen, die mit Krankheit und Behinderung leben, eine Antwort mit einer eigenen, dritten Filmproduktion entgegenzusetzen. In einer Film-in-Film-Inszenierung schildert die Gruppe vor dem Hintergrund einer fiktiven Fernsehproduktion humorvoll, selbstironisch und kritisch, wie neben dem Ehrgeiz und der Bildergier eines Journalisten die Wirklichkeit des Lebens mit Krankheit und Behinderung keinen Raum mehr hat. Der Film selbst erzählt in größeren Zusammenhängen und kleinen Anmerkungen über die Probleme von betroffenen jungen Menschen: von der Schwierigkeit bei der Ablösung vom Elternhaus, von der täglich neu erkämpften Alltagsorganisation zwischen notwendiger Sozialassistenz und Autonomiebedürfnissen, von den wenigen Arbeits- und Wohnungsangeboten, von dem so schwer zu lebenden Bedürfnis nach Liebe und Beziehungen, sowie von dem Bedürfnis, sich gesellschaftlich und politisch ausprobieren zu wollen, ohne dabei wegen der Abhängigkeit von Alltagsunterstützung eingeschränkt zu werden.
In dem 30minütigen Film werden diese Lebensthemen und -erfahrungen von den Jugendlichen in einer fiktionalen Handlung verdichtet. Die eigene Wirklichkeit zu einer Geschichte werden zu lassen hat dabei mehrere Funktionen. Zum einen schützt sie die Darsteller und gibt ihnen dadurch den Mut für das Überschreiten von Normalitätserwartungen. Die Gruppe hat so mehr Spielraum gehabt über Selbstironie und Überzeichnung zu arbeiten, als es in einer rein dokumentarischen Arbeit möglich gewesen wäre. Zudem haben sich in der fiktiven Handlung auch mehr Möglichkeiten ergeben, das Thema über eine zweite symbolische Ebene und damit auch jenseits der Sprache aufzugreifen. Die Aufarbeitung eigener Erfahrungen in einer Geschichte hat somit einer Erweiterung der Darstellung der eigenen Wirklichkeit gedient und dem Ansprechen des Möglichkeitssinnes bei Darstellern und Zuschauern.
Neben der filmischen Illustration des Themas sind die Projektergebnisse in einem Leitfaden aufbereitet worden. Anliegen dieses Ratgebers ist die Sensibilisierung für die mögliche persönliche Tragweite eines Auftritts in TV Magazinen. Der Leitfaden vermittelt theoretisches und praktisches Wissen über persönliche Repräsentation, Medienproduktionsbedingungen und juristische Grundlagen, um die Betroffenen dahingehend zu stärken, dass ihr Anliegen und nicht das der Produzenten zum Thema der TVBeiträge wird.
Film und Leitfaden werden kostenfrei zur Verfügung gestellt. Sie können für sich stehen, bilden aber auch eine sinnvolle Einheit: der Film schafft einen provokanten Diskussionseinstieg in das Thema, das mit Hilfe des Leitfadens informativ und geordnet aufbereitet werden kann.
Bestellmöglichkeit und weitere Infos
Birgit Seemann
Löwenkind e.V.
www.loewenkind.de
info[at]loewenkind.de