Projekt INA Pflege

Lesen – Schreiben – Teilhaben

Grundbildung im Kontext von Arbeit und Gesellschaft – Ein Gastbeitrag von Diana Stuckatz und Stefanie Richter

7,5 Millionen Menschen in Deutschland können nur unzureichend lesen und schreiben. Die Alphabetisierung und Grundbildung im Kontext aussichtsreicher Berufsfelder ist ein vielversprechender Weg in der Qualifizierungsarbeit. Unter dem Namen INA-Pflege entwickelt die Abteilung Wirtschaftspädagogik der Humboldt-Universität zu Berlin ein integriertes Angebot zur arbeitsplatzorientierten Alphabetisierung und Grundbildung im Pflegebereich.

Auf dem Weg zur Schrift

Simone, Mitte 40, besucht derzeit einen Alphabetisierungs- und Grundbildungskurs. Dass sie als Erwachsene lesen und schreiben lernen will, hat private und berufliche Gründe: Einerseits möchte Simone ihre Töchter mehr unterstützen. Zum anderen benötigt sie den Kurs, um einen sogenannten Pflegebasiskurs machen zu können, eine Weiterbildung, die für die Arbeit in der Pflegehilfe qualifiziert.

Elif ist Ende 30 und nimmt seit vier Monaten an einer solchen Pflegebasisqualifizierung teil. Wie Simone hat auch Elif zuvor einen Alphabetisierungs- und Grundbildungskurs besucht. Nur unzureichend lesen und schreiben zu können, hat ihr Leben lange Zeit negativ geprägt. Zunächst in der Schule, später etwa bei Behördengängen. Als Elif im vergangenen Jahr lesen und schreiben lernte, entstand der Wunsch, im ambulanten Pflegebereich zu arbeiten – auch, weil sie selbst pflegebedürftige Angehörige hat.

Simone und Elif haben einen langen, nahezu schriftlosen Weg hinter sich. Ihr Leben regierten Selbstzweifel, Scham, Angst und Vermeidungsstrategien. Mit den Anforderungen, die Familie, Berufswelt und Gesellschaft an sie stellten, wuchsen auch die potenziellen Benachteiligungserfahrungen. Simone und Elif sind sogenannte funktionale Analphabetinnen – und damit nicht allein.

Zahlen, Daten, Fakten

Im Frühjahr 2011 wurde mit den Ergebnissen der leo. – Level-One Studie erstmals die Größenordnung des funktionalen Analphabetismus in Deutschland quantifiziert. Schätzungen gingen bis dahin von vier Millionen Menschen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen aus (vgl. Döbert/Hubertus 2000). Differenziert nach mehreren Kompetenzstufen (Alpha-Levels) zeigt die leo.-Studie, dass 7,5 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren nur unzureichend lesen und schreiben können. Das entspricht etwa 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung Deutschlands. Als funktionale Analphabet/inn/en (1) können sie zwar zumeist einzelne Wörter und Sätze lesen oder schreiben, nicht jedoch kürzere Texte (vgl. Grotlüschen/Riekmann 2011). Ihre Teilnahme am beruflichen und gesellschaftlichen Leben sowie ihre individuelle Verwirklichung beschränken sich maßgeblich an ihren Schriftsprachkompetenzen. Dennoch ist mehr als die Hälfte der funktionalen Analphabet/inn/en erwerbstätig (56,9 Prozent). Allerdings arbeitet mehr als ein Drittel in un- und angelernten Tätigkeiten (37 Prozent) (vgl. Grotlüschen 2012; Grotlüschen/Riekmann/Buddeberg 2012).

Die Ergebnisse der leo.-Studie werden gestützt durch die PIAAC -Erhebung (2) der OECD (3), welche die Kompetenzen Erwachsener im internationalen Vergleich untersucht. Deutschen 16- bis 65-Jährigen wird hierin eine leicht unterdurchschnittliche Lesekompetenz bescheinigt. Mit erzielten 270 Punkten liegt diese signifikant unter dem OECD-Durchschnitt von 273 Punkten (vgl. Rammstedt 2013).

Grundbildung als Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe und individueller Verwirklichung meint aber nicht nur lesen und schreiben zu können. Vielmehr schließt der Begriff auch Grundkenntnisse in Mathematik, Fremdsprachen und dem Computerumgang sowie soziale Kompetenzen und die Fähigkeit zum selbstständigen Lernen ein (vgl. PT-DLR 2011).

Arbeitsplatzorientierte Grundbildung

Wie nun kann Grundbildung – und damit Teilhabe – gelingen? Aus der Lernforschung ist bekannt, dass Erwachsene insbesondere lernen, was sie für bedeutsam und nützlich erachten (vgl. Siebert 2012). In der Folge eröffnen gerade familiäre und andere soziale sowie berufliche Inklusionserfahrungen die Chance, Lerninteressen entstehen zu lassen (vgl. Ludwig/Müller 2012) – so, wie bei Simone, die mehr Verantwortung für ihre Kinder übernehmen will, oder Elif, die durch Pflegebedürftigkeit in der Familie Interesse am Beruf entwickelt hat.

Mit Blick auf die beruflichen Perspektiven muss davon ausgegangen werden, dass mittlerweile selbst vermeintlich einfache Tätigkeiten durchaus komplex und anspruchsvoll sind. Badel/Niederhaus (2009) untersuchten die Tätigkeits- bzw. Anforderungsprofile von sogenannten Einfacharbeitsplätzen in den Arbeitsmarktsegmenten Pflegehilfe, Hauswirtschaft/Küche sowie Reinigung mit dem Ergebnis, dass selbst hier vergleichsweise hohe Grundbildungsanforderungen, insbesondere bezüglich der Schriftsprache und mündlichen Kommunikation bestehen. Wollen Simone und Elif in der Pflegehilfe arbeiten, müssen sie grundlegende Kompetenzen im sprachlichen, mathematischen, sozialen und fachlichen Bereich nachweisen. Wenn gilt, dass eine fundierte Grundbildung notwendige Bedingung auch zur beruflichen Entfaltung ist, liegt nahe, Alphabetisierung und Grundbildung auf aussichtsreiche Berufsfelder hin auszurichten. Nach Prognosen des Statistischen Bundesamts zum Personalbedarf und -angebot in den Pflegeberufen bis 2025 werden auch bei zusätzlicher Berücksichtigung Un- und Angelernter zwischen rund 55.000 und 220.000 Pflegekräfte fehlen (vgl. Afentakis/Maier 2010).

Maßnahmen zur gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe

Der Förderschwerpunkt „Arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) fokussiert diese aussichtsreiche Verbindung schriftsprachlicher Entwicklung und beruflicher Qualifizierung, um die Zahl funktionaler Analphabet/inn/en zu verringern. Mit der Kampagne „Lesen und Schreiben – Mein Schlüssel zur Welt“ macht das BMBF deutschlandweit mit Plakaten, Werbespots und Ausstellungen auf die Bedeutung von Grundbildung als Voraussetzung für gesellschaftliche und berufliche Teilhabe aufmerksam. Das Alfa-Telefon des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung berät Betroffene und deren Angehörige unter der kostenlosen Nummer 0800 53 33 44 55. Hier können auch anonym Lernangebote zum Lesen und Schreiben erfragt werden.

Das Projekt INA-Pflege der Humboldt-Universität zu Berlin hat sich im genannten Förderschwerpunkt zum Ziel gesetzt, ein integriertes Angebot zur arbeitsplatzorientierten Alphabetisierung und Grundbildung im Pflegebereich zu entwickeln und zu erproben.

Auf Basis einer standardisierten Befragung bei Lehrenden der Pflegehilfe in Berlin und Brandenburg (n=49) zu Themen- und Übungsformbedarfen werden unter anderem Lehr- und Lernmaterialien erarbeitet, die gemeinsam mit curricularen und methodisch-didaktischen Hinweisen, Praxisbeispielen sowie Schulungsmaterialien die INA-Pflege-Toolbox bilden. Verstanden als „Werkzeugkoffer“ für Lehrende in der Pflegehilfe wird dieser an interessierte Akteure in Pflegeeinrichtungen, bei Bildungsdienstleistern und an weitere Sozialpartner verbreitet.

Didaktische Mittel

Um Menschen mit Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen den Weg in eine qualifizierte berufliche Tätigkeit der Pflegehilfe zu ebnen, müssen passgenaue Lehr- und Lernmaterialien entwickelt werden. Doch was bedeutet passgenau? Eine beachtliche Anzahl von Faktoren lässt eine gute Pflegebasisqualifizierung höchst anspruchsvoll werden.

Wesentlich sind insbesondere drei:

  • In Pflegebasiskursen lernen in aller Regel Menschen mit ganz unterschiedlichen Biografien und Lernvoraussetzungen – und Lehrende wissen seltenst, wer genau sie im nächsten Kurs erwartet. Darüber hinaus haben Lehrende häufig auch keinen pädagogischen Hintergrund.
  • Das Lernfeld Pflege ist ein fachwortschatzliches „Minenfeld“. Das Arbeitsbuch „Grundwortschatz für Pflegeberufe“ beispielsweise umfasst rund 1.900 Fachbegriffe und 185 Abkürzungen (Strack 2013). Der Wortschatz ist dabei Ausdruck eines umfassenden pflegespezifischen Regelwissens, das wiederum in der konkreten Situation richtig angewendet werden muss (Theorie-Praxis-Transfer).
  • Die Frage, was denn eigentlich vermittelt werden soll, wird bildungsgangindividuell beantwortet. Hintergrund ist, dass es sich bei der Pflegebasisqualifizierung um keine standardisierte Qualifizierung handelt. Und selbst für die Ausbildung in der Pflegehilfe, wie es sie in der Mehrzahl der Bundesländer gibt, unterscheiden sich die Curricula länderabhängig mitunter deutlich.

Passgenaue Entwicklung meint aber auch, genau solche Materialien zu entwickeln, wie sie von Lehrenden in der Pflegehilfe benötigt werden. Nach der Befragung gewünscht werden für Menschen mit geringen Grundbildungskenntnissen insbesondere Lehr- und Lernmaterialien für die Bereiche Kommunikation (mit verschiedenen Zielgruppen), den Umgang mit der Pflegedokumentation (Schreiben und Verstehen des Dokumentes), Aufgaben und Befugnissen von Pflegehelfenden sowie psychisch belastende Themen (Gewalt und Aggression, Sterben und Tod). Die Bedarfe an Aufgaben- und Übungsformen beziehen sich auf das Schreiben, den Umgang mit Fachbegriffen, das Kommunizieren und das verstehende Lesen.

Die Ergebnisse der Bedarfserhebung zeigen weiter, dass Lehrende in Pflegebasisqualifizierungen gute Erfahrungen beispielsweise mit spielerisch konzipierten Materialien (Rätsel, Lückentexte, Collagen) haben, bei denen die Lernenden selbst aktiv werden können. Auch Texte mit wenigen Fachwörtern und der Einsatz audiovisueller und haptischer Medien erweisen sich laut den Befragten als aufmerksamkeits- und lernfördernd. Schwierigkeiten haben Personen mit geringen Grundbildungskenntnissen laut den Angaben der Lehrenden mit dem verstehenden Lesen von fachspezifischen Texten, undifferenzierten Arbeitsanweisungen, Dokumenten zum Selbstlernen und stark komprimierten Informationen.

Abschließend ist festzuhalten: Menschen mit geringen Grundbildungskenntnissen den Einstieg in das Berufsfeld Pflegehilfe durch die Auseinandersetzung mit der „Sprache der Pflege“ ermöglichen zu können, setzt im Wesentlichen auch die Sensibilisierung und Professionalisierung der Lehrkräfte aus der Pflegepraxis für dieses Thema voraus. Ziel muss eine Haltung sein, die Sprache bzw. Grundbildung insgesamt zum integrierten Gegenstand des Fachunterrichts macht.

Kontakt

Projekt INA-PflegeHumboldt-Universität zu Berlin
Institut für Erziehungswissenschaften
Abteilung Wirtschaftspädagogik
Unter den Linden 6 | 10099 Berlin
Tel. 030/2093-4172 | Fax 030/2093-4165
E-Mail: ina-pflege.ewi[at]hu-berlin.de
Web: www.ina-pflege.hu-berlin.de
Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen: Diana Stuckatz und Stefanie Richter (stefanie.richter.1[at]hu-berlin.de)

Literatur

  • Afentakis, Anja/Maier, Tobias (2010): Projektionen des Personalbedarfs und -angebots in Pflegeberufen bis 2025. In: Wirtschaft und Statistik, H. 11, S. 990–1002.
  • Badel, Steffi/Niederhaus, Constanze (2009): Sind einfache Tätigkeiten wirklich einfach? Anforderungen an Grundbildung in ausgewählten Branchen. In: Klein, Rosemarie (Hg.): „Lesen und schreiben sollten sie schon können“. Sichtweisen auf Grundbildung. Göttingen: Institut für angewandte Kulturforschung e. V., S. 148–166.
  • Döbert, Marion/Hubertus, Peter (Hg.) (2000): Ihr Kreuz ist die Schrift. Analphabetismus und Alphabetisierung in Deutschland. Stuttgart: Klett.
  • Egloff, Birte/Grosche, Michael/Hubertus, Peter/Rüsseler, Jascha (2011): Funktionaler Analphabetismus im Erwachsenenalter: Eine Definition. In: PT-DLR – Projektträger im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (Hg.): Zielgruppen in Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener. Bestimmung, Verortung, Ansprache. Bielefeld: Bertelsmann, S. 11–31.
  • Grotlüschen, Anke (2012): Literalität und Erwerbstätigkeit. In: Grotlüschen, Anke/Riekmann, Wibke (Hg.): Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo. – Level-One Studie. Münster, Westf: Waxmann, S. 137–165.
  • Grotlüschen, Anke/Riekmann, Wibke (2011): leo. – Level-One Studie. Presseheft. Hamburg. URL: https://blogs.epb.uni-hamburg.de/leo/files/2011/12/leo-Presseheft_15_12_2011.pdf [28.02.14].
  • Grotlüschen, Anke/Riekmann, Wibke/Buddeberg, Klaus (2012): leo. – News Nr. 02/2012. Erwerbstätigkeit trotz funktionalem Analphabetismus – Betroffene sind häufig auf Hilfstätigkeiten verwiesen. In: Grotlüschen, Anke/Riekmann, Wibke/Buddeberg, Klaus (Hg.): leo.-News 2012. Universität Hamburg. URL: https://blogs.epb.uni-hamburg.de/leo/files/2012/02/leo.-Newsletter-02-2012.pdf [26.02.14].
  • Ludwig, Joachim/Müller, Katja (2012): Lernforschung in der Alphabetisierung. In: Report. Zeitschrift für Weiterbildungsforschung 35, H. 1, S. 33–42. URL: https://www.die-bonn.de/doks/report/2012-alphabetisierung-02.pdf [20.02.14].
  • PT-DLR Projektträger im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (Hg.) (2011): Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland. Daten und Fakten. PT-DLR Projektträger im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (Hg.). Bonn. URL: https://www.alphabund.de/_media/Daten_und_Fakten_Alphabetisieurng_barrierefrei.pdf [18.01.14].
  • Rammstedt, Beatrice (Hg.) (2013): Grundlegende Kompetenzen Erwachsener im internationalen Vergleich. Ergebnisse von PIAAC 2012. Münster: Waxmann.
  • Siebert, Horst (2012): Lernen und Bildung Erwachsener. 2., aktualisierte und überarbeitete. Bielefeld: Bertelsmann.
  • Strack, Richard (2013): Grundwortschatz für Pflegeberufe. 10., aktualisierte Aufl. Stuttgart: Kohlhammer (= Pflege kompakt).

Fußnoten

  1. „Funktionaler Analphabetismus ist gegeben, wenn die schriftsprachlichen Kompetenzen von Erwachsenen niedriger sind als diejenigen, die minimal erforderlich sind und als selbst-verständlich vorausgesetzt werden, um den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden. Diese schriftsprachlichen Kompetenzen werden als notwendig erachtet, um gesellschaftliche Teilhabe und die Realisierung individueller Verwirklichungschancen zu eröffnen“ (Egloff/Grosche/Hubertus/Rüsseler 2011: 14).
  2. PIAAC steht für Programme for the International Assessment of Adult Competencies.
  3. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung; Englisch: Organisation for Economic Co-operation and Development.